Das im April ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über das deutscheBundes-Klimaschutzgesetz von 2019 zeigt unmissverständlich, dass die bisherigenMaßnahmen der Bundesregierung gegen den Klimawandel nicht ausreichend sind, um dieFreiheitsrechte der jungen und zukünftigen Generationen zu schützen. Bis Ende 2022 müssennun konkrete Pläne für die Jahre nach 2030 vorgelegt werden, um eine gerechteLastenverteilung zwischen den Generationen zu gewährleisten. Dazu wird vor allem derAusbau der erneuerbaren Energien deutlich erhöht werden müssen. Die zuletzt vorgelegtenPläne reichen dafür jedoch nicht aus.
Energie ist das Rückgrat unserer Gesellschaft. Ohne sie geht heute (fast) gar nichts mehr. DasProblem daran ist: Knapp 85% der deutschen Treibhausgasemissionen entstehen über alleSektoren hinweg durch die Erzeugung von Energie (UBA, 2020). Um dem Klimawandel effektiventgegen zu wirken, muss also insbesondere die Form der Energiegewinnung umgestelltwerden. Anstatt wie bisher große Mengen an Kohle, Öl und Gas zu verbrennen, müssenerneuerbare Energiequellen – vor allem Photovoltaik (PV) und Windkraft – zunehmend stärkerausgebaut und genutzt werden. Aktuell beträgt der Anteil der erneuerbaren Energien amPrimärenergieverbrauch in Deutschland gerade einmal 17% (UBA, 2021a). Fossile Rohstoffekommen indessen zusammen noch immer auf einen Anteil von 77%. Ohne einengrundlegenden Wandel der Energieversorgung wird Deutschland weder sein ursprünglichesKlimaziel – weitgehende Treibhausgasneutralität bis spätestens 2050 (BMU, 2016) – noch seinim Lichte des BVerfG-Urteil (BVerfG, 2021) beschlossenes neues Klimaziel – Klimaneutralitätbis 2045 – (BMU, 2021) erreichen können.
Um bis zur Mitte des Jahrhunderts tatsächlich Klimaneutralität zu erreichen, müsste laut einerStudie des Fraunhofer Instituts für Solare Energiesysteme (Fraunhofer ISE) „[d]ie installierteKapazität für Windenergieanlagen und Photovoltaik in Summe [...] im Jahr 2050 zwischenknapp 500 GWel und mehr als 750 GWel“ betragen (Fraunhofer ISE, 2020). Zuletzt jedochwaren erst rund 116 GW erneuerbare Leistung installiert (PV und Wind-Onshore jeweils rund54 GW, Wind-Offshore rund 8 GW) (UBA, 2021b). Um die bestehende Lücke zu schließen,müssten bis 2050 also jährlich mindestens rund 15 GW an erneuerbaren Energien hinzugebautwerden. Angesichts der niedrigen Ausbauraten der vergangenen Jahre – seit 2017 wurdendurchschnittlich nur rund 3,9 GW PV, 1,4 GW Wind-Onshore und 0,8 GW Wind-Offshore proJahr ausgebaut (BMWi, 2021) – erscheint diese Größenordnung jedoch als kaum realistisch.
Nun macht das kürzlich ergangene Urteil des BVerfG aber klar, dass die bisherigenMaßnahmen nicht ausreichend sind, um die Freiheitsrechte junger und zukünftigerGenerationen zu gewährleisten (BVerfG, 2021). Mit anderen Worten: Klimaneutralität 2050ist nicht verfassungskonform. Das Gleiche gilt bei genauerem Hinsehen jedoch ebenso fürKlimaneutralität 2045 oder sogar 2040, denn auch mit diesen Zielmarken wird Deutschlandseinen gerechten Beitrag zur Erfüllung des 1,5 °C-Zieles aus dem – völkerrechtlichverbindlichen – Pariser Klimaschutzabkommen deutlich verfehlen (Wuppertal Institut, 2020;Gerhards et al., 2021; Climate Action Tracker, 2021). Das heißt aber, dass die jährlichenAusbauraten für erneuerbare Energien grundsätzlich noch höher liegen müssten als seitensdes Fraunhofer ISE berechnet.
Wie wichtig es indes ist das 1,5 °C-Ziel einzuhalten hat der Weltklimarat bereits 2018hervorgehoben. In dem Sonderbericht 1,5 °C globale Erwärmung werden die Auswirkungendes Klimawandels in einer 2 °C wärmeren Welt mit denen in einer 1,5 °C wärmeren Weltverglichen (IPCC, 2018). Das Ergebnis ist eindeutig und zeigt, dass wir alles dafür tun sollten,die globale Erwärmung auf möglichst 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zubegrenzen. Denn nicht nur erhöht sich mit jedem Zehntelgrad, um das die durchschnittlicheglobale Temperatur weiter steigt, die Wahrscheinlichkeit für immer häufigere und immerintensivere Wetterextreme – deren Auswirkungen wir auch in Deutschland bereits sehrdrastisch spüren (UBA, 2021c) –, sondern es steigt auch die Wahrscheinlichkeit für irreversibleVeränderungen unserer Umwelt durch sogenannte Kipppunkte des Klimasystems. Diebesondere Gefahr, die in dem Überschreiten dieser Kipppunkte liegt, ist, dass jeder einzelnevon ihnen den Klimawandel zusätzlich verstärkt und damit auch eine ernstzunehmendeBedrohung für die Existenz der Menschheit darstellt (Steffen et al., 2018; Lenton et al., 2019).Bisher hat sich die globale Durchschnittstemperatur gegenüber dem vorindustriellen Zeitraumbereits um 1,2 °C erhöht (WMO, 2021), der verbleibende Spielraum für den weiteren Ausstoßvon Treibhausgasen ist also sehr gering geworden.
Damit Deutschland seinen gerechten Beitrag zu der Einhaltung des PariserKlimaschutzabkommen leisten kann, müsste der Anteil erneuerbarer Energien an derStromerzeugung bis 2030 mindestens 90% betragen (Gerhards et al., 2021; Climate ActionTracker, 2021). Technologisch ist das möglich (Traber et al., 2021), es fehlt bislang aber derpolitische Wille, dies auch entsprechend umzusetzen. So wurde der Ausbau von Windkraftund PV, den maßgeblichen erneuerbaren Energien, in den letzten 10 Jahren in Deutschlandsystematisch verhindert (Goeßmann, 2021; Götze & Joeres, 2020) und das, obwohl die Kostenfür erneuerbaren Strom während der vergangenen Jahre kontinuierlich gesunken sind undinzwischen schon (teilweise) günstiger sind als diejenigen für fossile oder nukleare Energie(Fraunhofer ISE, 2018). Dies gilt insbesondere dann, wenn man auch die Kosten durchUmweltschäden berücksichtigt, die infolge der konventionellen Energieproduktion entstehenund die sich aktuell nicht in den stark subventionierten Preisen niederschlagen (UBA, 2019).
Um die Energiewende erfolgreich bis 2030 umzusetzen, müssen Windkraft und PV alsowesentlich stärker ausgebaut werden als bisher. In Hinblick auf PV werden dazu auchFreiflächenanlagen erforderlich sein, da der Ausbau der Dachflächen allein für dieerforderlichen Kapazitäten nicht ausreichend ist (Traber et al., 2021; Gerhards et al., 2021).Der Bau von PV-Freiflächenanlagen stieß zuletzt jedoch vielfach auf Kritik, da diese angeblichdie Landschaft verunstalten, die Biodiversität gefährden und Flächen nutzen, die ansonstenfür den Anbau von Lebensmitteln genutzt werden würden (Zinke, 2021). Besonders kritischwerden jene Anlagen gesehen, die außerhalb der EEG-Förderung entstehen und dadurch auchnicht der Leistungsbegrenzung auf 10 Megawatt unterworfen sind. Entsprechend können undwerden diese Anlagen zum Teil sehr groß geplant, wie zuletzt etwa in Brandenburg, woverschiedene Anlagen beantragt wurden, die jeweils rund 200 ha umfassen sollen (Russew,2021).
Wie substanziell die geäußerte Kritik und die vorgebrachten Argumente gegen PV-Freiflächenanlagen vor dem Hintergrund des Klimawandels und der daraus resultierendenKlimakrise indes wirklich sind, soll im Folgenden kurz diskutiert werden.
Landschaftsästhetik
Ob große PV-Freiflächenanlagen tatsächlich die Ästhetik der Landschaft stören oder nicht,variiert sehr stark mit jedem Standort und ist letztlich eine Frage des subjektiven Geschmacks.Da sich über selbigen, wie es bereits der Volksmund sagt, jedoch nur schwerlich streiten lässt,soll dieser Punkt hier nicht weiter vertieft werden. Es sei nur erwähnt, dass im Zweifel einvergleichsweise weniger schöner Anblick einer weiter verschärften Klimakrise aus mehrerenGründen – vor allem unserem eigenen Wohlbefinden – vorzuziehen ist.
Viel entscheidender indes sind die beiden anderen Argumente: der Verlust an Biodiversitätund an landwirtschaftlicher Nutzfläche für den Anbau von Lebensmitteln. Beide Argumentewären, wenn sie zuträfen, von großer Bedeutung, da der Rückgang der Artenvielfalt – auch inDeutschland – bereits dramatisch ist (IPBES, 2019; von der Decken, 2019) und da dieVerfügbarkeit von Lebensmitteln grundsätzlich gewährleistet sein sollte. Eine genaue Analysedieser beiden Argumente zeigt jedoch sehr schnell, dass keines von beiden tatsächlichzutreffend ist und gegen PV-Freiflächenanlagen ins Feld geführt werden kann.
Biodiversität
Die Errichtung einer PV-Freiflächenanlage wirkt sich – abhängig von der Vornutzung derbetreffenden Fläche, ihrem ökologischen Ausgangszustand und der baulichen Ausführung –nicht nachteilig auf die Artenvielfalt aus, sondern kann im Gegenteil sogar zu einerVerbesserung derselben führen (Demuth & Maack, 2019; BNE, 2019). Das gilt vor allem fürzuvor intensiv genutzte Ackerflächen (Demuth & Maack, 2019; Henhofer, 2021), die häufig imMittelpunkt der Diskussion um PV-Freiflächenanlagen stehen. Für Kleinsäuger, wie etwa denin Deutschland vom Aussterben bedrohten Feldhamster, aber ebenso für Insekten, Vögel undverschiedene Pflanzenarten entstehen bei extensiver Pflege der Flächen und ausreichendemAbstand zwischen den einzelnen Modulreihen neue Lebensräume, die zu einer Erhöhung derBiodiversität führen (Demuth & Maack, 2019; BNE, 2019). Zusätzlich zu der Erzeugung vonerneuerbarem Strom, der nicht das Klima belastet, wird durch eine PV-Freiflächenanlagevielfach also auch die Artenvielfalt gefördert.
Auf ökologischen Flächen, die bereits sehr divers sind, sollte die Errichtung einer PV-Freiflächenanlage indes vermieden werden. Dies zu gewährleisten stellt, wie gleich zu sehensein wird, in Anbetracht der in Deutschland verfügbaren Flächen und ihrer bisherigen Nutzungjedoch keine grundsätzliche Schwierigkeit dar.
Lebensmittel
Die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung sagt ganz klar: Die Versorgung mitLebensmitteln in Deutschland ist sichergestellt (BLE, 2021). Fleisch, Milch, Zucker undKartoffeln werden von den deutschen Landwirten in Mengen produziert, die deutlich höherliegen als die Nachfrage der Bevölkerung. Für Obst, Gemüse, Eier und Honig besteht bereitseine Importabhängigkeit, für Weizen ebenfalls, wobei der Selbstversorgungsgrad hier zu 91%erreicht wird. Da ferner nur 22% der landwirtschaftlich verfügbaren Fläche in Deutschland fürden Anbau von Lebensmitteln genutzt wird – gegenüber 60% für Futtermittel – (FNR, 2021), kann nicht von einer drohenden Unterversorgung mit Lebensmitteln infolge der Errichtungvon PV-Freiflächenanlagen gesprochen werden. Es zeigt sich, dass die vorgebrachten Argumente gegen die Errichtung auch von größeren PV-Freiflächenanlagen ganz überwiegend nicht zutreffen und insbesondere vor dem Hintergrundder Klimakrise und ihrer bereits spürbaren Auswirkungen – auf das Leben der Menschen inDeutschland – nicht überzeugend sind. Der Klimawandel ist keine abstrakte Gefahr mehr,deren Auswirkungen erst in vielen Jahren spürbar werden. Wir können unsere Verantwortungnicht länger vor uns herschieben, sondern müssen jetzt endlich handeln. Die Zukunft hat schonbegonnen und wir sind ein Teil von ihr. Doch um in dieser Zukunft auch weiterhin unser Lebenin einem sicheren Rahmen führen zu können, ist entschiedenes Handeln unumgänglich.
Patrick Hohlwegler, Referent für Energie- und Klimapolitik, ansvar 2030 & The Climate Task Force
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